Deine Seele berühren Excerpt

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Kapitel 1

»Hallo, Mister.« Der siebenjährige Yoram Smith schirmte die Augen mit einer Hand an der Stirn ab und blinzelte zu der großen Gestalt empor, die vor dem Diner stand. Der Mann hatte die Sonne im Rücken, sodass sein Gesicht im Schatten lag, doch jetzt bewegte er leicht den Kopf. Für Yoram ein Zeichen, dass der Fremde ihn gehört hatte, auch wenn er nicht antwortete. »Wohnen Sie in Kfarkattan?«

Orangen und Honig. Der Mann roch nach Orangen und Honig. Wäre er aus Kfarkattan gewesen, hätte Yoram diesen wunderbaren Duft bestimmt schon längst bemerkt. Zwar verbrachte er nicht viel Zeit in der Menschenstadt, aber alle paar Monate kamen seine Onkel zu Besuch, und da sie das Rudelterritorium nicht betreten durften, musste er aus Miancarem herkommen, um sie zu sehen. »Ich wohne nicht hier, aber ganz in der Nähe in Mian-«

»Yoram.«

Er blickte zur Seite und hob grüßend die Hand. »Hallo, Onkel Ethan! Das hier ist mein Freund …« Wieder sah er zu dem gut riechenden Mann. »Wie heißen Sie denn, Mister?«

»Du solltest es besser wissen, anstatt einfach so auszubüxen, Junge. Deine Mama wäre außer sich vor Wut, wenn sie wüsste, dass du dich allein in der Stadt herumtreibst.«

»Aber ich bin doch nicht allein, Onkel Ethan. Ich bin bei meinem Freund.«

Erst, als er nahe genug war, um einen Arm um Yoram zu legen, löste sein Onkel den Blick von ihm und betrachtete den Mann, dessen Namen Yoram noch immer nicht kannte. Ethan atmete tief durch – ein Zeichen, dass er die Witterung des Fremden aufnahm – und zog Yoram dichter an sich. »Es ist nicht sicher, mit Fremden zu reden.«

»Er ist kein Fremder. Er ist mein Freund«, beharrte Yoram.

Als Ethan wieder aufblickte, versteifte sich der Mann und zupfte an seinen Hemdsärmeln herum. »Ich habe Ihren kostbaren kleinen Dreckspatz nicht angerührt.« Er verzog angewidert das Gesicht und fuhr mit beiden Händen über seine dunkelgraue Nadelstreifenweste. »Andernfalls hätte ich jetzt irgendetwas von dem Zeug an seinen Händen auf meinem Anzug, und wie Sie sehen, bin ich vollkommen sauber.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Vielleicht sollten Sie den Jungen mal baden.« Kopfschüttelnd und leiser fügte er hinzu: »Er hätte es dringend nötig.«

Yoram hatte am Vorabend gebadet, und abgesehen von ein bisschen Schmutz – und möglicherweise ein wenig Schokolade von dem Riegel, den seine Onkel ihm gekauft hatten –, war er nicht dreckig.

Mit einem Seufzer schob Ethan Yoram auf die Tür des Diners zu. »Lass uns reingehen, Junge.«

Yorams Instinkte rebellierten dagegen, sich von diesem Mann entfernen zu müssen, und er schüttelte Ethans Hand ab. »Aber ich kenne seinen Namen noch gar nicht.« Wieder trat er auf den Mann zu. »Wie ist Ihr Name?«

»Yorry.« Ein Hauch von Strenge schwang in Ethans sonst so sanfter Stimme mit. »Es ist Zeit, wieder reinzugehen.«

»Mister?«

»Hör auf deinen Onkel.« Der Mann verdrehte die Augen und wandte sich ab.

»Aber ich kenne Ihren Namen nicht.« Wie sollte Yoram ihn wiederfinden, wenn er nicht wusste, nach wem er fragen sollte?

»Hast du nicht gesagt, du hast Lust auf Pommes? Lass uns reingehen und eine große Portion bestellen.« Ethan legte einen Arm um Yoram und hielt ihn diesmal fester, während er ihn in Richtung Tür zog.

»Aber –«

»Oh, und schau mal, da ist Miguel.« Ethan klang erleichtert. »Siehst du? Zeit fürs Abendessen.«

»Miguel?« Der Mann fuhr herum und ließ den Blick über die Straße gleiten. Die Sonne war mittlerweile ganz untergegangen, und vermutlich erkannte er nicht viel. Menschen sahen im Dunkeln nicht besonders gut. »Miguel Rodriguez? Wo?«

Ethans Griff um Yoram verstärkte sich, und er machte noch einen Schritt auf die Tür zu, während er seinem Gefährten entgegensah.

Miguel kam gemessenen Schrittes die Straße hinauf, beschleunigte aber plötzlich. Egal, wie rasch Yorams Onkel lief oder rannte, seine Beine bewegten sich nie anders – dadurch sah es so aus, als gleite er vorwärts. Doch Yoram hatte gelernt, die Geschwindigkeit seines Onkels anhand seines Haars zu beurteilen. Wenn die langen, schwarzen Strähnen glatt auf Miguels Rücken oder Schultern lagen, bewegte er sich in normalem Schritttempo. Wehten sie hingegen hinter ihm her, rannte er.

Rascher als ein olympischer Sprinter erreichte Miguel sie, trat zwischen sie und den fremden Menschen und fragte unfreundlich: »Kenne ich Sie?«

Yoram lehnte sich zur Seite und versuchte, um die beeindruckende Gestalt seines Onkels herumzuspähen.

»Salvatore Rossi.« Der Mann streckte eine Hand aus, und Yoram lächelte, erfreut, dass er den Namen seines Freundes endlich kannte – auch wenn er elend lang war.

»Kenne ich Sie, Salvatore?« Anstatt die dargebotene Hand zu schütteln, verschränkte Miguel die Arme vor der Brust.

»Sozusagen.« Salvatore ließ den Arm sinken und zupfte einmal mehr an seinen Hemdsärmeln. »Wir haben … korrespondiert.«

Nach einem kurzen Zögern sagte Miguel: »Ich habe Ihre Briefe und E-Mails gelesen. Ich bin nicht interessiert.«

»Ich bin mir sicher, dass Sie Ihre Meinung ändern, wenn wir erst einmal Gelegenheit für ein persönliches Gespräch gehabt haben.«

»Es gibt nichts zu besprechen.«

»Sie sind nicht leicht aufzuspüren, Mr. Rodriguez. Nachdem ich all die Mühe auf mich genommen habe und in diese unbedeutende kleine Stadt gekommen bin, könnten Sie mir wenigstens zuhören.«

»Wie haben Sie mich denn aufgespürt?« Miguel hatte die Stimme gesenkt. Sie klang jetzt dunkler, und Sorge flutete Yoram.

Er zupfte am T-Shirt seines Onkels und sagte: »Onkel Miguel. Dieser Mann, äh, Sal … Er ist mein Freund.« Tu ihm nicht weh.

Miguel legte den Kopf schief, ohne Sal aus den Augen zu lassen. »Dein Freund?«, fragte er gedehnt. »Haben Sie meine Familie belästigt, Salvatore?« Er ließ die Arme sinken und ballte die Fäuste so fest, dass seine Knöchel knackten. »Bring den Jungen nach drinnen, Ethan.«

»Nein!« Verzweifelt wand Yoram sich aus Ethans Griff. »Wir haben uns gerade erst kennengelernt. Er hat mich nicht belästigt, Onkel Miguel, ich schwör’s!«

»Verflixt, was haben die Leute hier nur für ein Problem? Der Bürgermeister hat Interesse an meinem Vorschlag bekundet, dieser gottverlassenen Gegend Fortschritt und Entwicklung zu bringen. Und er hat erwähnt, dass Sie zu dieser Jahreszeit zu Besuch kommen und meist in dieses Diner gehen. Es geht also alles mit rechten Dingen zu. Ich möchte lediglich ein für beide Seiten profitables Geschäft mit dem Mann diskutieren, dem die Hälfte aller Grundstücke in diesem Kaff gehört.«

»Mein Land steht nicht zum Verkauf.« Miguel sprach so leise, dass Yoram ihn kaum verstehen konnte. »Gehen Sie – und kommen Sie nicht wieder.«

»Drohen Sie mir gerade?«

»Ich drohe nie, Salvatore.« Miguel machte einen Schritt nach vorne. Aus Yorams Blickwinkel wirkte es, als stehe er jetzt so nah bei Sal, dass ihre Körper einander berührten. »Aber hin und wieder bin ich großzügig genug, Warnungen auszusprechen. Suchen Sie sich einen anderen Ort für Ihre Entwicklung. Halten Sie sich von meiner Familie fern, halten Sie sich von dieser Stadt fern. Halten Sie sich einfach fern.«

So sehr Yoram den Menschen in seiner Nähe behalten wollte, wusste er doch, dass dieser Miguels Rat besser folgte. Also hielt er den Mund. Allerdings konnte er weder die Tränen noch das leise Wimmern zurückhalten.

»Yorry?« Miguel warf einen Blick über die Schulter und sah Yorams feuchte Augen.

»Er ist mein Freund«, flüsterte Yoram.

Miguel starrte ihn einige Augenblicke lang an, ohne zu blinzeln. Dann sah er zu Ethan und hob die Brauen.

Ethan presste die Lippen zusammen und zuckte mit den Schultern.

Nach einigen Sekunden wandte Miguel sich wieder um. »Suchen Sie einen Arzt auf.«

»Bitte was?«

»Einen Arzt. Sobald Sie hier weg und zurück in … Las Vegas sind, sollten Sie einen Arzt aufsuchen.«

»Es ist gut, dass Sie zumindest einen Teil meiner Briefe irgendwie wahrgenommen haben. Obwohl es mir lieber gewesen wäre, dabei würde es sich um mein Angebot handeln und nicht um die Adresse meines Firmensitzes. Wie auch immer – ich bin nicht hier, um ärztlichen Rat zu bekommen.«

»Nein, das sind Sie nicht. Betrachten Sie das als einen Gefallen …«, Miguel trat von dem Mann zurück, beugte sich herab und hob Yoram auf seine Arme, »für meinen Neffen.«

»Woher willst du das wissen, Onkel Ethan?«

»Weil ich ans Schicksal glaube.«

Yoram verzog das Gesicht und betrachtete seinen Onkel abschätzend, während er überlegte, ob diese Antwort in irgendeiner Weise Sinn ergab.

»Außerdem habe ich seinen Namen, seine Adresse und, wenn ich mich richtig erinnere, mindestens vier verschiedene Telefonnummern auf den ganzen Briefen und E-Mails, die er mir und meinem Anwalt geschickt hat«, fügte Miguel hinzu.

»Hast du gehört, mein Junge?« Ethan lachte leise. »Wenn es deine Bestimmung ist, diesen Mann wiederzusehen, dann wird das Schicksal sicherstellen, dass es auch so kommt. Und falls es scheitert, können wir uns noch immer darauf verlassen, dass dein Onkel Miguel sich um die Sache kümmert.«

Seine Onkel hatten ihn noch nie enttäuscht, deshalb beruhigte diese Antwort Yoram nun doch ein Stück weit. Immerhin konnte er nun den schmerzhaften Druck ignorieren, der in seiner Magengrube saß, seit Sal vor etwa einer halben Stunde gegangen war.

»Dein Vater meint, du liebst Eiscreme.« Ethan legte die Arme auf den Tisch und beugte sich vor. »Glaubst du, du könntest jetzt Appetit auf welche haben?«

»Eis?« Augenblicklich fühlte Yoram sich besser und sprang auf. »Darf ich auch Streusel drauf haben? Und Schlagsahne?«

»Was immer du willst.« Miguel erhob sich und hielt Ethan die Hand hin.

»Hast du gehört, Yorry?« Ethan legte seine Hand in Miguels und stand auf. »Miguel hat dir gerade einen Blankoscheck ausgestellt. Nichts wie rüber zur Eisdiele, bevor er es sich anders überlegt!«

»Ich werde es mir nicht anders überlegen.« Miguel legte eine Hand auf Ethans Rücken und fuhr mit der anderen durch Yorams Haar. »Wozu bin ich schließlich Onkel, wenn ich dich nicht ordentlich mit Zucker vollpumpe und dann zurück zu deinen Eltern schicke? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir genau das mit deinem Vater mehr als einmal gemacht.«

»Okay, dann will ich zwei Kugeln!« Yoram packte die Hand seines Onkels und zog daran. »Und Nüsse!«

Miguel warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Ich hab dir ja gesagt, der Kleine ist blitzgescheit!«

»Zweifellos.« Auch Ethan lachte und ließ zu, dass Yoram ihn mit sich zog. »Und stark ist er.« Er blickte zurück zu seinem Gefährten, und Yoram bemerkte einen merkwürdigen Ausdruck auf Ethans Gesicht. »Wirklich stark.«

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