Kapitel 1
Mehr als ein Jahrzehnt war vergangen, seit er das letzte Mal dieses absolute Gefühl des Ausgefülltseins gespürt hatte, daher war Hugh Langley der Grund dafür nicht sofort klar. Er genoss weiter das Gedränge, die warmen Körper, das hungrige Grunzen und die moschusartigen Düfte der Löwen-Gestaltwandler um ihn herum, als plötzlich der Druck in seinem Kopf und seiner Brust anschwoll und ihn fast ohnmächtig werden ließ. In dem Moment wurde ihm klar, was passiert war.
„Wo ist er?“, fragte er atemlos, als er sich in eine kniende Position zwang und seinen Blick durch sein großes Schlaf- zimmer schweifen ließ. Das war schlimmer, so viel schlimmer als je zuvor. Er konnte kaum atmen, kaum denken, sich kaum bewegen. „Der Siphon?“, keuchte er.
„Hugh?“, sagte Mara Terrence, die Gestaltwandlerin, die sich unter ihm geräkelt hatte. „Was ist los?“
„Premier?“ Dennis Jones löste sich von Percy Milroy und beide Männer kamen auf ihn zu. „Was ist … Oh, Scheiße! Mara, halt ihn fest, bevor er zusammenbricht.“
„Was ist los mit ihm?“, schrie Mara, als sie Hughs beträcht- liches Gewicht ausglich und ihn auf den Boden hievte.
„Was geht hier vor sich?“, fragte Lorena Mansfield, als sie aus dem Badezimmer geeilt kam. Dort hatte sie sauber gemacht, bevor sie nach Hause gehen wollte, um für ein Dutzend Löwenbabys Abendessen zu kochen.
„Der Siphon“, spuckte Hugh aus, während er sich seine Schläfen hielt. „Findet den Siphon …“
„Er ist nicht hier.“
„Der Siphon kann nicht weit vom Premier entfernt sein“, betonte Percy. „Seht in seinem Zimmer nach!“
Innerhalb weniger Sekunden wurde die Tür, die Hughs Schlafzimmer mit dem des Siphons verband, aufgerissen.
„Oh Scheiße!“, schrie Dennis. „Ich brauche Hilfe! Mara, Lorena, Percy, kommt her. Schnell! Bevor er unseren Pre- mier verletzt.“
„Was … Dennis! Hugh hat einen Anfall!“, sagte Percy. Er umschloss Hughs Wangen mit seinen klammen, zitternden Händen und flehte. „Hugh. Premier. Bitte stirb nicht. Wir brauchen dich. Bitte stirb nicht!“
Eben noch hatte Hugh keine Kontrolle über seine zuckenden Glieder und nutzlosen Lungen gehabt, doch nun spürte er eine Öffnung in dem Tunnel, der ihn mit dem Siphon verband. Mit seiner letzten Energie schob er seine Kraft dort durch und endlich – zum Glück – ließ der lähmende Druck nach, der ihn von innen zu zerreißen drohte.
„Hugh?“, sagte Percy mit zitternder Stimme. „Kannst du mich sehen?“
Die Dunkelheit verschwand und Hugh blinzelte, als er ein- atmete.
Percy stand gebückt vor ihm, seine normalerweise gebräunte Haut war kreidebleich und seine braunen Augen riesig. „Premier?“
„Ich bin okay.“ Hugh hustete und setzte sich auf. Er tät- schelte Percys Schulter, seine schwarzen Hände wirkten noch dunkler auf Percys ungewöhnlich blassem Körper.
„Alles in Ordnung.“
„Hugh?“ Mara, Lorena und Dennis kamen herübergeeilt und ließen sich neben ihm nieder.
Die seltene Kraft und Energie des Premier-Löwen Hugh beruhigte sein Rudel und machte sie stark und zuversicht- lich, was ihnen in allen Phasen ihres Lebens Erfolg ver- sprach. Das Rudel bewunderte und verehrte ihn; daher hatte sie der Anblick seines fast bevorstehenden Todes so aufgewühlt.
„Ich bin okay. Ich habe meine Kraft an den Siphon über- tragen.“ Hugh sah sich um. „Wo ist er?“
„In seinem Zimmer“, sagte Dennis, seine Lippen vor Ekel verzogen. „Wie konnte er dir das antun? Wie konnte er das unserem Rudel antun?“
„Was hat er getan?“, fragte Hugh.
„Er hat versucht, sich zu hängen.“
Das Leben eines Premiers zog sich über Jahrhunderte, die Stärke und Macht wuchs mit jedem Sonnenzyklus, bis er letzten Endes die Kraft nicht mehr bändigen konnte, was für ihn einen schmerzvollen Tod und für das Rudel Ver- zweiflung bedeutete. Aber der Siphon nahm die Energie eines Premiers auf, um den Druck auszugleichen. Obwohl der Siphon sie nicht selbst einsetzen konnte, stellte er ein Lager für die Kraft dar, und stellte sie dem Premier den- noch zur Verfügung. Ein Premier, der seine Energie an einen Siphon abgegeben hatte, war nahezu unzerstörbar. Allerdings nur nahezu, weil der Tod des Siphons auch die Energiequelle eliminieren und den Premier mit so viel Kraft überfluten würde, bis dieser quasi implodierte.
„Keine Sorge. Wir haben ihn da runtergeholt und seine Handgelenke und Knöchel mit einem Seil gesichert.“ Mara
warf einen bösen Blick Richtung Türdurchgang. „Jetzt wird er dir nicht mehr wehtun können.“
Hugh hatte das Berk-Rudel bereits seit über siebzig Jahren angeführt, als seine ständig wachsende Kraft zu groß wurde, um sie in seinem eigenen Körper zu bändigen. Unter seiner Leitung und Führung war das Berk-Rudel und dessen Löwen aufgeblüht. Vor einem Jahrzehnt bot ihm das kleine, schwache Westgate-Rudel einen Siphon an, der gerade volljährig geworden war, im Austausch dafür, dass er sie alle in sein gedeihendes Premier-Rudel aufnehmen würde. Hughs Zustimmung hatte die Westgate-Löwen vor ihrem fast sicheren Tode bewahrt.
„Er wollte sich erhängen?“, wiederholte Hugh überrascht.
„Warum sollte er das tun?“
Die ausdruckslosen Gesichter zeigten ihm, dass keiner über diese Frage nachgedacht hatte, geschweige denn über die Antwort. Körperlich ausgelaugt und mehr als nur ein wenig aufgewühlt darüber, wie nahe er dem Tode gewesen war und wie verletzlich er sich vor seinen Löwen gezeigt hatte, musste sich Hugh sammeln und dann die Situation mit dem Siphon untersuchen, um sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passieren würde.
„Ihr habt gesagt, er ist jetzt gesichert?“
„Ja.“
Da er nicht wollte, dass ihn jemand als schwächlich ansah, richtete sich Hugh entschlossen auf und rückte seine breiten Schultern gerade. Wie bei allen Premiers waren seine Haut, sein Haar und seine Augen schwarz, sowohl in menschlicher als auch in Löwengestalt. Und da sein Körper und seine Kräfte mit den Jahren wuchsen, war er im Alter
von mehr als einem Jahrhundert über zwei Meter groß und wog über 130 Kilogramm. Seine Größe half ihm, stärker und beherrschter zu wirken, als er sich in diesem Moment fühlte.
„Ich gehe der Sache auf den Grund“, sagte er bestimmt und stellte dabei sicher, dass sein Tonfall keine Widerrede zuließ. Er lief auf seine offene Schlafzimmertür zu, wohl- wissend, dass ihm sein Rudel folgen würde, und sagte: „Für heute Nacht sind wir hier fertig.“
Alle vier Löwen wünschten sich daraufhin eine gute Nacht und verließen das Haus, ohne sich umzudrehen. Hugh seufzte; erleichtert, dass sie auch nach seinem Kontrollver- lust seine Fähigkeiten nicht angezweifelt hatten. Leider konnte man nicht dasselbe von seinen Gedanken behaupten.
Er war dem Sterben noch nie zuvor so nahe gewesen, nicht mal in der Zeit, bevor er einen Siphon gehabt hatte. Das Gute an diesem Vorfall war der unbestreitbare Beweis dafür, wie groß seine Kraft im letzten Jahrzehnt geworden war. Leider bewies der Vorfall auch, wie unglaublich abhängig er von dem Siphon war. Erschöpft kehrte Hugh in sein Schlafzimmer zurück und ließ sich auf die Matratze fallen, ohne sich die Mühe zu machen, die Decke über sich zu ziehen. Er würde schlafen, seinen Körper und seinen Geist erholen lassen und sich um den Siphon kümmern, wenn er klar denken konnte.
Hugh erwachte in einem pechschwarzen Raum. Er rollte sich auf die Seite und sah zu dem riesigen Panoramafenster. Am Morgen strömte für gewöhnlich das Licht unauf-
haltsam an den Rändern der schweren Seidengardinen vorbei, sodass die sonnenabweisende Schutzfolie die Strahlen nicht ganz in Schach halten konnte. Es kam jedoch kein bisschen Licht herein; entweder war es also noch Freitagnacht oder früher Samstagmorgen.
Obwohl er sich körperlich von der Aktion des Siphons erholt hatte, waren seine Sorgen nicht abgeklungen. Was auch immer sein Urteilsvermögen getrübt hatte, musste schnell und entschlossen geklärt werden. Da er zuerst emo- tional wieder Fuß fassen musste, bevor er sich um diese unerwartete und unwillkommene Situation kümmern konnte, ging Hugh ins Badezimmer.
Sobald er sauber, angekleidet und wieder fast er selbst war, marschierte er in den angrenzenden Raum, legte den Licht- schalter um und sagte: „Du musst dich erklären.“
Der Siphon lag zusammengerollt auf dem Bett, seine Knö- chel und Handgelenke gefesselt, und er gab keinen Mucks von sich. Wenn sein Tod nicht Hughs eigenes sofortiges Ableben bedeutet hätte, würde er denken, der Siphon wäre tot.
Als Hugh die hungernden Westgate-Löwen aufgenommen und sie von ihrem vom Feuer verwüsteten Land gerettet hatte, bekamen sie Ressourcen, ein Zuhause, Nahrung und einen Premier. Mit sehr viel Arbeit und Zeit hatte Hugh diese Löwen in das Berk-Rudel integriert und nun waren sie Teil eines erfolgreicheren Rudels, als es vor der Zusam- menführung gewesen war. Aber letzte Nacht hätte dieser Siphon das fast alles zerstört.
„Wach auf“, sagte Hugh.
Mit einem resignierten Seufzen bewegte sich der Siphon und versuchte anscheinend, sich aufzusetzen. Die Fesseln hinderten ihn daran.
„Ich befreie dich.“ Hugh war 30 Zentimeter größer und wog doppelt so viel wie der Siphon, daher war es kein Risiko, ihn zu befreien. Er ging zu ihm hinüber, nahm das Seil in beide Hände und zog daran, sodass es einfach zer- riss. Die Vorführung seiner Stärke beschwichtigte den Teil in ihm, der ihm noch immer Sorgen bereitete. Die nächt- liche Nahtoderfahrung setzte ihm zu.
„Kannst du dich aufsetzen?“, fragte er, als er bemerkte, dass der Siphon noch immer Schwierigkeiten hatte.
„Ja“, krächzte der Siphon und setzte sich zitternd aufrecht.
„Gehen wir irgendwohin?“ Er rieb sich mit der bebenden Hand den Nacken und stand auf. „Ich hole meine Schuhe.“
„Nein.“ Hugh packte den Siphon an den Schultern und hielt ihn fest. „Ich bin hergekommen, um mit dir zu reden.“
„Du willst mit mir reden?“ Er blinzelte verwirrt.
„Ja. Wir müssen darüber reden, was du unserem Rudel antun wolltest.“ Der kratzigen Stimme nach zu urteilen, bezweifelte Hugh jedoch, dass der Siphon viel reden konnte. „Du brauchst Wasser.“ Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, was recht albern war, denn dort waren wie immer nur ein Bett, ein Nachttisch und eine Kommode. Der einzige Unterschied war das Loch in der Decke nahe der Kommode, wo der Siphon vermutlich das Seil befestigt hatte. „Lass uns runtergehen.“
„Oh.“ Der Siphon stand auf und schwankte. Hugh wartete, bis er sich orientiert hatte, und verließ dann langsam den
Raum. Bis er wusste, was das sprunghafte Verhalten des Siphons ausgelöst hatte, musste er auf der Hut sein, daher beobachtete er ihn auf dem Weg zur Küche genau.
Nachdem er eine Wasserflasche aus dem glänzenden Edel- stahlkühlschrank genommen hatte, setzte sich Hugh auf einen der gepolsterten Stühle vor dem Magnolienholztisch und wartete darauf, dass der Siphon sich sein Getränk holte und sich zu ihm gesellte. Als der Siphon immer noch nicht sprach, nachdem Hugh seine Flasche geleert hatte, verlor er seine Geduld und nahm die Zügel in die Hand.
„Was gestern passiert ist, darf sich nicht wiederholen. Du hast mein Rudel in Gefahr gebracht.“ Unter normalen Umständen hätte Hugh denjenigen getötet, der solch ein Vergehen begangen hatte, aber der Tod des Siphons war genau das, was er verhindern musste, daher war er gezwungen, sich eine andere Lösung ausdenken. „Sag mir, warum du versucht hast, dich zu hängen.“
Der Siphon hob seine Flasche an den Mund, kippte sie und schluckte langsam.
Genervt von der Verzögerung zog Hugh es in Betracht, den Siphon zur Unterwerfung zu prügeln, aber er hatte keine Ahnung, was es mit seiner eigenen Kraft anstellen würde, wenn er den Siphon körperlich schwächte. Nur einer in einer halben Million Löwen wurde als Siphon geboren; es gab also nicht genug von ihnen auf der Welt, um viel über sie zu wissen, und Hugh konnte nichts ris- kieren, was die Person beeinträchtigte, in der er seine Kraft lagerte.
Er knurrte vor Frust und befahl: „Antworte mir.“
„Was möchtest du wissen, Premier?“, fragte der Siphon müde. Er spielte an dem Etikett der Flasche herum.
„Ich will wissen, warum du versucht hast, mich zu töten und dieses Rudel zu zerstören.“
„Habe ich nicht.“
Schneller als es die normalen Augen eines Löwen hätten verfolgen können, packte Hugh den Siphon an der Kehle.
„Diese Seilabdrücke sagen etwas anderes!“, brüllte er, seine Geduld war am Ende. „Wie kannst du es wagen, deinen Premier anzulügen?“
Trotz Hughs Machtdemonstration, seiner lauten Stimme und seiner klaren Überlegenheit zuckte der Siphon nicht einmal.
„Antworte mir.“ Hugh schüttelte ihn.
„Ich habe geantwortet.“ Die Stimme des Siphons war kaum hörbar, sowohl, weil er leise sprach als auch wegen Hughs festem Griff.
„Du hast ein Seil um deinen Hals geschlungen, es an die Decke gebunden und bist von deiner Kommode gesprungen“, beschuldigte Hugh ihn. Der Siphon wider- sprach nicht, daher fuhr Hugh fort. „Das ist ein Angriff gegen mich und dieses Rudel.“ Wieder sagte der Siphon nichts. Hugh schüttelte ihn. „Leugnest du das?“
Zum ersten Mal, seit sie angefangen hatten zu sprechen, hob der Siphon seinen Kopf und bedachte Hugh mit einem Blick aus seinen einzigartig blauen Augen. „Ich leugne nicht, dass ich mich gehängt habe, aber ich habe nie- manden angegriffen.“
Diese Antwort ergab keinen Sinn.
„Ich bin über ein Jahrhundert alt. Ein Premier meines Alters hat viel zu viel Macht, um ohne einen Siphon zu existieren.“ Hugh warf den Siphon zur Seite, sodass sein Stuhl fast kippte. „Das weißt du. Verdammt, jedes Löwen- baby, das alt genug zum Klettern ist, weiß das.“ Er fuhr sich mit den Fingern über sein kurz geschorenes Haar.
„Richtig?“
Nachdem er seinen Stuhl wieder gerade gerückt hatte, senkte der Siphon seinen Blick nochmals und nickte.
„Und doch leugnest du, dass ich aufgrund deiner Taten keine Chance mehr gehabt hätte, meine Energie zu kontrol- lieren?“
Der Siphon schüttelte seinen Kopf.
Premiers waren selten – ein Löwe unter fünftausend war ein Premier, einer der mächtigen Löwen mit schwarzem Fell und diesem speziellen Muster. Aber es gab hundert Premiers für jeden Siphon. Die blauäugigen Löwen waren so selten, dass sie fast gänzlich unbekannt waren. Es gab niemand anderen, der Hughs Kraft aufnehmen konnte, und allein würde er durch diese Kraft implodieren.
„Keine Spielchen mehr!“, schrie Hugh, als er seinen Stuhl zurückschob und auf die Füße sprang. Er legte beide Hände auf den Tisch und baute sich vor dem Siphon auf.
„Berk ist ein Premier-Rudel. Mit deinen Taten hättest du vierzehnhundert ausgewachsene Löwen und fünfhundert Löwenbabys verletzen können. Hast du daran gedacht?“ Wieder schüttelte der Siphon seinen Kopf.
„Bist du nicht dankbar?“
Die Augen des Siphons zogen sich verwirrt zusammen. Er fragte: „Dankbar wofür?“
„Wofür?“, brüllte Hugh. „Sieh dich um.“ Ohne zu schauen, deutete er mit seinem Arm im Raum herum. „Du bist Teil eines Premier-Rudels. Wir haben über viertausend Morgen ergiebiges Land. Unsere Mitglieder sind gut genährt, finan- ziell abgesichert und eng verbunden. Unsere Häuser, Geschäfte und unser Territorium rufen bei den meisten Rudeln Neid hervor. Was willst du noch?“
„Ich weiß nicht.“ Der Siphon zuckte mit den Schultern und sank tiefer auf dem Stuhl hinunter. „Leben, schätze ich.“
„Du bist ein Siphon. Du kannst ewig leben.“
Während gewöhnliche Löwen genauso wie ihre menschli- chen Gegenstücke lebten und alterten, hörten die Premiers auf zu altern, wenn sie ihre Höchstposition erreicht hatten. Statt zu altern, wurden sie größer und mächtiger. Und ein Siphon, der die Macht eines Premiers trug, alterte ebenfalls nicht.
„Ich lebe nicht.“ Der Siphon leckte seine Lippen. „Aber ich bin nicht tot.“ Er seufzte tief und flüsterte: „Ich will es sein.“
Diese widersprüchlichen Aussagen ergaben keinen Sinn.
„Du sagst, du willst leben, aber dann sagst du, du willst sterben.“ Hugh sah dem Siphon in die Augen, in der Hoff- nung, eine Antwort zu finden. Als er diese nicht fand, fragte er: „Warum hast du versucht, dich zu hängen?“
„Ich bin ein Siphon. Ich kann nicht leben.“ Der blauäugige Blick senkte sich. „Der Tod ist der einzige Ausweg.“
Ein Unheil verkündender Schauer lief über Hughs Rücken. Der Tod des Siphons würde auch Hughs Tod bedeuten. Das würde er nicht zulassen.
Um die Kraft eines Premiers zu tragen, musste ein Siphon immer in seiner Nähe bleiben. Von daher konnte Hugh den Siphon die meiste Zeit über beobachten. Aber Hugh schlief, duschte, fickte. Er konnte den Siphon nicht jeden Tag in jeder Sekunde beobachten. Ihn von Mitgliedern des Rudels bewachen zu lassen, war auch keine Option, denn das würde sie nur auf Hughs Verletzlichkeit hinweisen, was zu Aufruhr im Rudel führen würde und noch schlimmer: Er würde riskieren, dass Außenstehende davon erfahren konnten. Diese Schwachstelle könnte leicht ausgenutzt werden.
Die acht Jahrzehnte lange Führung von Hugh und die harte Arbeit hatten sich bezahlt gemacht – er hatte nicht über- trieben, als er dem Siphon die Eigenschaften des Berk- Rudels aufgezählt hatte. Berk war ein Premier-Rudel, was bedeutete, dass es stärker, wohlhabender und glücklicher als die meisten Rudel war. Es bedeutete auch, dass andere Löwen verzweifelt das haben wollten, was sie hatten, und wenn sie Blut rochen, würden sie nicht zögern anzugreifen. Schwäche zu zeigen, würde das gesamte Rudel gefährden.
Seit er dreiundzwanzig war, hatte Hugh sein Leben dem Schutz des Berk-Rudels gewidmet. Wenn er dem Problem des Siphons nicht auf den Grund gehen würde, wären sein Leben und das Rudel in Gefahr. Das würde er nicht zulassen. Aber um das Problem zu beheben, musste Hugh zuerst verstehen, was das Problem war.