»Ähm. Was machst du da?«
Die Stimme hinter ihm erklang so unerwartet, dass Spencer Derdinger förmlich von seinem Bürofenster wegsprang.
»Nichts!«, rief er abwehrend und drehte sich zur Tür. Dort stand Maria Lee, eine Kollegin und Freundin, und betrachtete ihn mit einem vielsagenden Grinsen.
Die hölzernen Jalousien schlugen klappernd gegen die Scheibe, was Spencer zusammenzucken ließ.
Maria hob eine Augenbraue, trat in aller Ruhe näher, legte eine perfekt manikürte Hand auf eine der Lamellen und zog diese nach unten. »Wann bist du so ein Klischee geworden?«, fragte sie, ohne den Blick vom Fenster zu lösen.
»Ich weiß nicht, was du meinst.« Eilig kehrte Spencer an seinen Schreibtisch zurück und begann, die dort wahllos verteilten Blätter auf nicht weniger wahllose Stapel zu schichten.
Maria wandte sich um und nahm auf einem leeren Stuhl Platz, bevor sie das Haar über die Schulter zurückwarf und sagte: »Spencer, beleidige bitte nicht meine Intelligenz, indem du so tust, als hättest du gerade nicht aus dem Fenster gestarrt und die Männer angesabbert, die da drüben am Anbau fürs Mathegebäude arbeiten.«
Spencer errötete und begann, die Blätter neu anzuordnen. »Das Klischee wäre ja genau genommen, dass Bauarbeiter vorbeigehende Frauen anstarren. Und nicht, dass Männer aus dem Schutz ihres Büros heraus Bauarbeiter anstarren. Siehst du? Ich war gar kein Klischee.«
»Okay«, erwiderte Maria. »Dann war es ein umgekehrtes Klischee.«
»So was gibt’s?«, fragte Spencer stirnrunzelnd.
Maria schlug ihre schlanken Beine übereinander, was ihren Rock über ihre Schenkel aufwärts rutschen ließ. »Ich hab einen Doktor in angewandter Mathematik, genau wie du – nicht in Englisch. Ich hab also keine Ahnung, ob es so was gibt oder nicht. Jetzt hör auf, abzulenken, und verrate mir, auf welchen der Kerle du ein Auge geworfen hast.«
»Hast du in dem Aufzug eigentlich unterrichtet?«, fragte Spencer, indem er Maria von Kopf bis Fuß musterte.
»Ja, klar. Wieso?« Sie zog einen Mundwinkel hoch und zupfte am Saum ihres eng anliegenden Pullovers, wodurch der V-Ausschnitt weit genug nach unten rutschte, um den Blick auf ein beeindruckendes Dekolleté freizugeben.
»Was hast du heute Morgen unterrichtet?«
»Einführung in die Algebra«, gab sie mit einem Funkeln in den Augen zurück.
Spencer bemühte sich gar nicht erst, sein Lachen zurückzuhalten. »Und wie viele Footballspieler sind in deinem Kurs?«
»Oh, ich weiß nicht.« Maria hob eine Hand und betrachtete eingehend ihre langen Fingernägel. »Ich würde mal sagen, mindestens das halbe Team.«
Spencer schnaubte. »Du bist böse.«
»Strategisch«, korrigierte sie und blickte auf.
»Du hast einen Haufen Achtzehnjähriger gefoltert, weil die geringe Möglichkeit besteht, dass sie vor ihrem Trainer von dir reden.«
»Wie ich schon sagte«, sagte Maria gedehnt, »strategisch. Und, mein Lieber, so oft, wie ich mich umgedreht und mich gestreckt habe, besteht nicht etwa eine geringe Möglichkeit. Ich kann dir garantieren, dass diese Jungs vor Thom über mich reden werden. Aber genug von mir. Welcher dieser Bauarbeiter macht dich heiß?«
Auf gar keinen Fall würde Spencer Maria noch mehr Munition liefern, also sagte er: »Keine Ahnung, wovon du redest.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, womit sie ihren Busen nach oben und halb aus dem Ausschnitt schob. »Nun zier dich nicht, Spencer.«
Spencer verschränkte ebenfalls die Arme vor seiner bedeutend sparsamer ausgestatteten Brust und hob die Augenbrauen. »Ich bin kein achtzehnjähriger Heterojunge, Maria.« Mit dem Kinn wies er vielsagend auf Marias Brüste. »Die da hypnotisieren mich nicht.«
»Na gut.« Maria schnaubte verächtlich. »Dann verrat es mir eben nicht. Ich krieg’s schon alleine raus.«
Furcht prickelte bei diesen Worten über Spencers Wirbelsäule. Maria war scharfsinnig, dreist und in jeder Hinsicht umwerfend. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, bekam sie es ausnahmslos immer. Thom Bramfield, der Cheftrainer des Football-Teams, wusste es zwar noch nicht, doch er hatte keine Chance gegen ihre Avancen. Spencer hingegen wusste, dass er sich irgendwie vor Marias ausgeklügelten Strategien schützen musste.
»Da gibt es nichts rauszukriegen«, sagte er hastig und zwang sich, tief durchzuatmen und sich zu beruhigen. Andernfalls hätte Maria seine Panik sofort erkannt und gewusst, dass sie eine heiße Spur hatte. Und dann würde Spencer sie endgültig nicht mehr von ihrer neuesten Mission abbringen können. »Ich meine – okay, ich hab die Bauarbeiter da draußen beobachtet«, gab er zu. »Sie sind attraktiv, gut gebaut, und Gucken ist ja nicht verboten. Und das war’s auch schon. Da gibt’s nichts weiter rauszukriegen.«
Zum ersten Mal, seit sie sein Büro betreten hatte, wurde Marias Miene weicher. Jetzt wirkte sie tatsächlich eher aufrichtig besorgt als berechnend. »Spencer, seit du und Peter Schluss gemacht habt, habe ich nicht mehr gesehen, dass du dich für irgendeinen Mann interessierst. Und selbst vorher ging es dir doch niemals nur um das Körperliche. Du starrst seit zwei Wochen jeden Tag aus diesem Fenster. Die Männer da draußen sind attraktiv, aber auch nicht attraktiver als viele andere, die du online findest – und die weniger anhaben.« Sie beugte sich vor und holte tief Luft, ehe sie weitersprach. »Du musst auch mal ein Risiko eingehen, mein Lieber. Du kannst dich doch nicht ein Leben lang in deinem kleinen Haus eingraben.«
Zu sagen, dass er und Peter Schluss gemacht hatten, ließ es irgendwie so zivilisiert klingen. Als hätten sie eines Tages bei ein paar Drinks ganz freundschaftlich beschlossen, von nun an getrennte Wege zu gehen. Was ja irgendwie durchaus stimmte.
Spencer hatte von einem Bekannten gehört, dass Peter mit einem anderen Mann aus einer Bar gekommen war – nachdem er den Großteil der Nacht damit verbracht hatte, diesem Mann seine Zunge in den Hals zu stecken.
Er hatte sich kein Urteil erlauben wollen, bevor er nicht auch Peters Version der Dinge gehört hatte. Also hatte Spencer das Thema ganz ruhig zur Sprache gebracht. Und daraufhin zwanzig Minuten lang an einem kleinen Tisch im Coffeeshop um die Ecke gesessen, einen Becher abkühlenden Kaffees in den Händen, während Peter fröhlich zugab, sich durch verschiedenste Betten zu schlafen, und dann aufzählte, was ihm in ihrer achtzehnmonatigen Beziehung fehlte. Und an allem war, so Peter, allein Spencer schuld. Zuletzt sagte Peter, sie sollten in Kontakt bleiben, strich sich ein paar Krümel von der Hose, stand auf und verließ den Laden.
In Anbetracht dieser Umstände hätte Spencer das Ende ihrer Beziehung eher als einseitiges Sitzenlassen denn als einvernehmliche Trennung beschrieben. Aber er wollte auch nicht pathetisch klingen, also schluckte er diese Klarstellung hinunter und gab sich stattdessen Mühe, beleidigt zu wirken, als er antwortete: »Mein Haus ist fast hundertsiebzig Quadratmeter groß. Für so ein historisches Viertel ist das gar nicht mal klein.«
»Gut«, sagte Maria augenrollend. »Ich gebe Ruhe.«
Spencer seufzte erleichtert. »Danke.«
»Für den Moment jedenfalls«, setzte sie hinzu, durchbohrte ihn mit dem Blick ihrer dunklen Augen. »Ich gebe für den Moment Ruhe. Aber früher oder später komme ich darauf zurück, und dann erzähl mir bloß keinen vom Pferd.«
Maria meinte es nur gut, aber sie verstand es eben nicht. Er war achtunddreißig und hatte seine besten Jahre damit nach Maßstäben lokaler Bars hinter sich – nicht, dass er sich jemals sonderlich wohl in Bars gefühlt hätte. Mit seinen eins fünfundsiebzig und knapp unter achtzig Kilo war er durchschnittlich groß und durchschnittlich schwer. Dazu braune Augen und braunes Haar mit einem Hauch von Grau an den Schläfen – Spencer wusste, dass er niemand war, dem man auf der Straße hinterhersah. Und wie sein Ex hilfreich ausgeführt hatte: Wenn es Spencer wie durch ein Wunder doch einmal gelang, dass ihn ein anderer Kerl bemerkte, war er viel zu uninteressant, um diese Aufmerksamkeit lange aufrechtzuerhalten.
»Ich habe überhaupt noch nie auf einem Pferd gesessen«, murmelte er in einem weiteren Versuch, vom Thema abzulenken.
»Ich auch nicht«, sagte Maria nachdenklich. »Obwohl ich vermute, dass Thom Bramfield einen Schwanz wie ein Hengst hat. Wenn alles läuft wie geplant, kann ich dieses Wochenende aufsitzen und davon galoppieren.«
»Oh Gott.« Spencer zuckte peinlich berührt zusammen und schüttelte den Kopf. »Dieses Kopfkino konnte ich jetzt so was von gar nicht gebrauchen!«
»Meine Mädels sind an dir echt verschwendet«, seufzte Maria und drückte ihre Brüste, bevor sie mit den Schultern zuckte. »Na, egal. Ich hab genug Verehrer.«
»Du bist Mitglied im Hochbegabtennetzwerk!«, entfuhr es Spencer. »Du kannst so was nicht sagen!«
Maria atmete tief ein und musterte ihn mitfühlend. »Und ob ich das kann. Wer sagt, dass man nicht sexy, witzig oder spleenig sein darf, nur weil man intelligent ist? Ich kann in Statistiktheorien brillieren, derbe Witze erzählen und fabelhaft aussehen. Alles zugleich. Nichts davon schließt den Rest aus.« Sie erhob sich, strich ihren Rock glatt und bedachte Spencer mit einem bedeutungsvollen Blick. »Niemand kann mich in eine Schublade stecken – außer mir selbst.«
Sie schlenderte zur Tür, legte eine Hand auf die Klinke und sah noch einmal über die Schulter zurück. »Das Gleiche gilt für dich, Spencer«, setzte sie hinzu und verließ das Zimmer.
Emilio Sanchez sah, wie die Jalousien des Büros im zweiten Stock der University of Nevada, Las Vegas, mit einem Ruck zugezogen wurden. Er wusste, dass der sexy Mann, der Chinohosen in allen Brauntönen und einen schier unerschöpflichen Vorrat an Pullundern besaß, ihn nicht länger beobachtete.
Das erste Mal hatte er den Professor vor zwei Wochen gesehen.
Auf Bitte seines Bruders hatte Emilio den Verteilerkasten an jenem Gebäude überprüft, mit dessen Anbau die Arbeiter gerade beschäftigt waren. Als er Rauls Ruf an jenem Tag gefolgt war, hatte Emilio eigentlich geplant, nur ein paar Minuten vorbeizuschauen und sich zu überlegen, wie man den Verteiler am besten umsetzte, denn er befand sich auf einer Außenmauer, die bald zu einer Innenwand werden würde.
Doch als sein Blick dem dieses Mannes begegnet war, hatte Emilio seine Pläne spontan geändert.
Braune Augen mit kleinen goldenen Punkten darin fielen ihm als Erstes auf. Leider bekam er keine Gelegenheit, länger in ihnen zu versinken, weil der Mann knallrot anlief, hastig den Blick senkte und dann ins Gebäude flüchtete.
Schüchtern. Der Fremde war schüchtern. Und Emilio fand das äußerst reizvoll. Also hatte er einen Vorwand gefunden, auf der Baustelle zu bleiben – in der Hoffnung, dem faszinierenden Fremden noch einmal zu begegnen.
»Hey, Bruderherz, sicher, dass du länger hier mit anpacken willst?«, fragte Raul und lenkte Emilios Aufmerksamkeit von dem nun leeren Fenster ab. »Es wird noch ein paar Wochen dauern, bis wir die Leitungen verlegen können, und für das Gerüst kann ich einen der Tischler rüberholen.«
Sanchez Construction hatte als Familienunternehmen begonnen, und obwohl die Firma jetzt groß genug war, dass sie Angestellte außerhalb der eigenen Verwandtschaft benötigte, bildeten Emilios Eltern und seine Geschwister – eine Schwester und drei Brüder – noch immer das Herzstück. Gleichsam auf Baustellen aufgewachsen zu sein, hatte aus jedem von ihnen einen Tausendsassa gemacht, doch zugleich verfügten sie alle über ihre persönlichen Stärken. Mit zweiundzwanzig Jahren war Emilio der Jüngste – und der einzige ausgebildete Elektriker. Vermutlich würde das auch immer seine Spezialität bleiben, selbst wenn er im nächsten Jahr seine Prüfung zum Generalunternehmer ablegte.
Das hieß aber nicht, dass er nicht auch ein verdammt guter Tischler war!
»Nö, das macht mir nichts aus.« Er strich sein dichtes schwarzes Haar zurück und sah seinen Bruder an. »Bei meinen Nebenjobs ist derzeit eh nichts zu holen. Auf den anderen Baustellen hab ich heute Morgen erst nachgefragt.«
Das stimmte zwar, trotzdem konnte er im Handumdrehen ein anderes Projekt finden, wenn er seine Kumpels wissen ließ, dass er verfügbar war. Seit seinem Highschool-Abschluss arbeitete Emilio tagsüber für das Familienunternehmen. Ein Arbeitstag, der normalerweise um sechs Uhr früh begann und um vierzehn Uhr endete; das ließ Raum für kleine Nebenjobs danach. Zunächst waren es sporadische Gefallen für Freunde oder Verwandte gewesen, die etwas Unterstützung beim Heimwerken brauchten. Doch im Lauf der Jahre hatte Emilio festgestellt, dass er gerade diese Abwechslung in seiner Arbeit mochte: tagsüber unterstützte er die gewerblichen Projekte des Familienunternehmens, abends bändigte er häusliches Chaos, verbockt von Gelegenheitshandwerkern. Nicht zuletzt schätzte er das zusätzliche Taschengeld, das er sich damit verdiente.
Ein paar Stunden später meinte Raul: »Hey, hermanito, wir haben schon länger als sonst gemacht, und es ist Freitag. Wir packen zusammen und gehen auf ein paar Bier rüber in Joes Pub.«
Emilio hämmerte noch ein paar Nägel in den Stützbalken, den er angebracht hatte. Dann stieg er von der Leiter, trat aus dem teils eingerüsteten Raum und warf wohl zum hundertsten Mal einen Blick hinauf zum Fenster des Professors. Es sah dunkel aus. Bei aller Konzentration auf seine Arbeit hatte Emilio doch immer weiter nach dem Mann Ausschau gehalten, mit dem er zusammentreffen wollte, doch er hatte ihn nicht entdeckt. Das bedeutete entweder, dass Emilio nicht so wachsam war wie gedacht – oder dass der Mann sich in eine andere Richtung davongemacht hatte. So oder so waren Emilios Pläne für diesen Abend durchkreuzt.
»Ich komm heute nicht mit«, sagte er mit einem Seufzen, unfähig, die Enttäuschung in seiner Stimme zu verbergen. Den ganzen Tag über war er immer wieder halb hart geworden bei der Vorstellung, was er alles mit dem Professor anstellen konnte, wenn er ihn erst einmal alleine antraf. Dass er nun wohl keine dieser Phantasien in die Tat umsetzen konnte, frustrierte ihn.
»Du musst mitkommen, Emilio«, bemerkte Bruce Simms, einer der neuen Arbeiter, und kam zu Emilio herüber, während dieser sein Werkzeug zusammenpackte.
Bruce war ein netter Kerl und machte einen guten Job, deshalb schenkte Emilio ihm ein Lächeln und verstaute seine restlichen Sachen. »Danke, Mann, aber ich glaub nicht, dass ich heute eine besonders gute Gesellschaft abgebe.« Er stand auf und hievte seinen Werkzeugkasten in die Höhe. »Vielleicht nächstes Mal, ja?«
»Nein!« Bruce schrie es beinahe. »Es muss heute sein!«
Merkwürdige Reaktion. Emilio hob die Augenbrauen und fragte: »Äh, ist da etwas, was du mir sagen willst?«
»Nein. Ja.« Bruce seufzte und kratzte sich an der Wange. »Ach, verdammt. Also gut, es geht um Folgendes: Die Schwester meiner Frau hat dich gesehen, als du mich letzte Woche nach Hause gefahren hast. Du weißt schon, als mein Wagen in der Werkstatt war.« Bruce hielt inne und sah Emilio bedeutungsvoll an.
Also nickte dieser. »Ja?«
»Na ja, sie will dich gern kennenlernen, darum hat meine Frau ihr gesagt, ich würd’ alles arrangieren, ohne dass es arrangiert aussieht. Das Mädel wird heute in der Bar sein und sehen, wie ich reinkomme, und dann wird sie Hallo sagen kommen und dann stell ich euch vor und …« Bruce seufzte inbrünstig und rieb sich die Schläfe. Offensichtlich behagte ihm diese Unterhaltung gar nicht. »Scheiße, Mann, du verstehst schon.«
O ja, Emilio verstand – und verspürte gleich noch viel weniger Lust, diese Bar zu besuchen. Schon höflicher Small Talk mit seinen Kollegen hätte ihn jetzt beinahe überfordert, aber dann noch die Annäherungsversuche von Bruce’ Schwägerin abwehren zu müssen – das wäre unerträglich.
»Wie ich sagte, danke fürs Angebot, Mann, aber heute hab ich keinen Bock.« Er knuffte Bruce freundlich gegen die Schulter und wandte sich ab.
»Warte, Emilio. Ich hab ein Foto von ihr auf meinem Handy.« Bruce packte ihn an der Schulter. »Willst du nicht wenigstens mal gucken, wie sie aussieht, bevor du Nein sagst?«
»Du merkst selbst, wie schräg das hier ist, oder?«, fragte Emilio und drehte sich wieder zu Bruce.
»Oh ja, ich kapier’s schon. Aber sie ist die Schwester meiner Frau. Wenn ich das hier durchziehe, gibt’s für mich wochenlang guten Sex. Außerdem denke ich, ihr zwei würdet euch verdammt gut verstehen. Ich glaube, sie ist genau dein Typ.«
Wieso auch immer Bruce meinte, zu wissen, was Emilios Typ war: Er lag komplett daneben.
Den letzten Satz musste Raul gehört haben, denn er begann leise zu lachen. »Junge, da bist du echt an der falschen Adresse.«
»Was meinst du damit?«, fragte Bruce stirnrunzelnd.
Emilio hatte sein Coming-out mit achtzehn gehabt. Da er nicht weit entfernt von seinem Elternhaus und den restlichen Geschwistern wohnte, konnte er ohnehin nichts allzu lange vor ihnen geheim halten. Er war mit der Highschool fertig und geschickt genug, um bei jeder beliebigen Baufirma Arbeit zu finden, falls die Neuigkeit seine Familie doch mehr erschütterte als gedacht. Außerdem hatte er einen älteren Cousin, dessen Homosexualität in der Familie bekannt gewesen war, seit Emilio denken konnte.
Zwar hatte er Asher nur wenige Male bei Familientreffen gesehen, aber niemals war irgendjemand dem großen Mann dumm gekommen. Zugegeben: Wer jemanden von Ashers Temperament reizte, lief Gefahr, danach dauerhaft zu humpeln. Doch Emilio hatte auch hinter Ashers Rücken niemanden schlecht über seinen Cousin reden hören, weder in Vegas noch daheim in Kalifornien. Daher war er zuversichtlich, dass seine Familie sich schon mit der Sachlage abfinden würde – und dass es besser war, gleich mit der Wahrheit herauszurücken.
Das resultierende Drama war tatsächlich nur von kurzer Dauer gewesen, und nachdem der erste Schock einmal verflogen war, gingen alle wieder zur Tagesordnung über. Emilio hatte geglaubt, damit sei die Sache dann auch ein für allemal erledigt.
Doch in den letzten vier Jahren hatte er begriffen, dass es niemals wirklich erledigt sein würde. Das Coming-out war ein fortdauernder Prozess.
Es gab immer mal wieder einen neuen Kollegen, einen neuen Partner in der Verwandtschaft. Oder jemanden, der bei den zwanglosen Fußballspielen am Wochenende auftauchte. Small Talk beinhaltete immer wieder scheinbar unverfängliche Fragen über Emilios Privatleben – etwa, ob er verheiratet war. Emilio schämte sich nicht, schwul zu sein, aber mitunter erschöpfte es ihn, sich immer und immer wieder aufs neue zu outen. Manchmal überlegte er, ob er bestimmte Fragen nicht besser ignorieren oder das Gespräch von gewissen Themen ablenken sollte, anstatt noch einmal die »Ich bin schwul«-Rede zu halten.
Und jetzt war wieder eine dieser Gelegenheiten. Emilio hatte eine lange Woche hinter sich und war nicht in Stimmung für Konversation. Doch angesichts eines drohenden Verkupplungsversuchs und Rauls Frotzelei musste er wohl etwas sagen.
»Er meint damit«, erklärte Emilio mit einem Seitenblick auf seinen Bruder, »dass die Schwester deiner Frau bestimmt ganz reizend und hübsch und alles ist, aber eben nicht mein Typ.«
»Oh.« Bruce sank ein bisschen in sich zusammen – und dann blinzelte er und spannte sich schlagartig wieder an. »Warum ist sie nicht dein Typ? Sie sieht meiner Frau ziemlich ähnlich! Willst du damit sagen, dass Sue nicht hübsch ist?«
Okay, Ablenkung half also nichts. Er konnte also genauso gut Klartext reden, alle dummen Fragen auflaufen lassen und dann nach Hause gehen, wo er relativ friedlich ein Sixpack niedermachen konnte. Relativ, weil er drei Mitbewohner hatte, was Ruhe zu einem sehr seltenen Genuss machte. Doch an einem Freitagabend standen seine Chancen wohl besser als sonst, weil die Jungs vermutlich unterwegs waren, um Sex zu haben, sich zu betrinken oder beides.
»Nein, das will ich damit überhaupt nicht sagen. Ich bin schwul. Egal, wie hübsch deine Schwägerin ist, sie ist nicht mein Typ«, erklärte Emilio trocken und hoffte, dass das Gespräch damit beendet war. Er wollte nach Hause und sich nach einer langen, frustrierenden Woche endlich entspannen.
Zunächst begann Bruce albern zu glucksen, weil er das vermutlich für einen Witz hielt – aber als Emilio ihn weiter ernst ansah, begriff er offenbar, dass es ernst gemeint war. »Oh«, sagte er überrascht. »Äh … cool.«
Emilio nickte Bruce anerkennend zu und wandte sich wieder ab, um zum Parkplatz hinüberzugehen.
Bruce trottete neben ihm her. »Du bist dir da also ganz sicher?«
»Sicher, dass ich mich nicht zu Frauen hingezogen fühle?«, fragte Emilio sarkastisch zurück und schüttelte dann den Kopf. »Ja, Mann, ich bin mir sicher. Sag deiner Frau, sie wird sich nach wem anders umschauen müssen, um ihn mit ihrer Schwester zu verkuppeln.«
»Ja, okay.« Bruce nickte. Dann setzte er etwas nervös hinzu: »Heißt das etwa, du fühlst dich zu mir hingezogen?«
»Auf keinen Fall«, antwortete Emilio prompt.
»Oh, okay. Gut.« Bruce seufzte hörbar erleichtert – nur, um Emilio Sekunden später plötzlich empört anzustarren. »Warum denn nicht, verdammt noch mal?«
Emilio konnte das Lachen nicht zurückhalten. »Beruhig dich, Mann. Ist nicht persönlich gemeint.«
Bruce sah an sich hinunter. Er war ähnlich gebaut wie Emilio – kräftige Muskeln, breite Schultern, über eins achtzig groß. »Willst du sagen, ich bin hässlich?«
Großartig. Erst sollte er Bruce’ Frau beleidigt haben, jetzt Bruce selbst. Emilio hatte wirklich keine Kraft für diesen Mist. Sie hatten den Parkplatz beinahe erreicht, und sein Pick-up war schon in Sicht. Das würde das Gespräch wohl gnädigerweise bald zu einem Abschluss bringen, hoffte er. »Nein, Mann. Ich meine damit nur, dass du nicht mein Typ bist.«
»Was ist dann dein Typ?«, fragte Bruce ungläubig.
»Oh, verdammte Scheiße«, brummte Emilio und wuchtete seinen Werkzeugkasten in eine der verschließbaren Boxen auf der Ladefläche. »Ich kann nicht glauben, dass wir dieses Gespräch gerade führen. Wie ich sagte: Geht nicht gegen dich. Ich mag Kerle, die …« Er sah auf und unterbrach sich, als er die perfekte Verkörperung seines Typs entdeckte: Der sexy Professor stand nur zwei Reihen von ihnen entfernt.
»Er. Er ist mein Typ«, sagte Emilio rasch. »Und ich gehe jetzt und rede mit ihm. Wir sehen uns am Montag.« Mit diesen Worten eilte er auf den Professor zu und hoffte, dass er endlich dessen Stimme hören konnte, um herauszufinden, ob sie ebenso faszinierend war wie diese Augen.