Kapitel 1
So hatte ich mir den Verlauf dieser Nacht nicht vorgestellt, das gebe ich zu. In die Enge getrieben in einer dunklen — und stinkenden, muss ich dazu sagen — Gasse. Umgeben von Blutsaugern. Zwei Rudelgenossen in Wolfsgestalt reglos am Rad eines Pick-Ups, unklar, ob lebendig oder tot. Der Rest unserer bunt gemischten Truppe hatte bereits Reißaus genommen, hektisch bestrebt, es nach Hause zu schaffen, wo sie ihre Wunden lecken konnten, bevor sie das Bewusstsein verloren. Und der hochgewachsene, grimmig wirkende Vampir, der für sicher die Hälfte der Prügel verantwortlich war, die wir hier bezogen hatten, wirkte noch immer so fit wie ein Turnschuh, während er auf mich zustolzierte. Sein langes schwarzes Haar wehte hinter ihm her, während er sich die Hände am T-Shirt abwischte, um Reste von Gestaltwandler-Innereien loszuwerden, auf den Boden spuckte, damit das Blut in seinem Mund nicht in seinen eigenen Blutkreislauf gelangen konnte, und mich zornig anstarrte.
»Ralph, nicht«, grollte Der-Gruseligste-von-allen in Richtung des Blutsaugers, der mich gegen raues Mauerwerk gedrückt hielt. Blut lief in stetigen Rinnsalen über meinen Hals und beide Handgelenke, zu meinen Füßen hatte sich bereits eine Lache gebildet, und mein Herz verlangsamte endlich, zum Glück, seinen Schlag.
Der Gegen-die-Wand-Drück-Vampir, den der andere Ralph nannte, hielt meine beiden Handgelenke mit einer Hand über meinem Kopf zusammen und hatte gerade die freie Hand zu meinem Bauch bewegt, die Klauen schon einsatzbereit, als der Befehl zum Einhalten erklungen war. Er warf einen Blick über die Schulter, gab mich aber nicht frei. Nicht, dass ich eine Chance auf Flucht gehabt hätte, selbst wenn er mich losgelassen hätte. Sie waren zu siebt und ich nur einer. Außerdem waren sie größer, stärker, älter. Beim letzten Gedanken musste ich kichern. Sie waren unsterblich. Natürlich waren sie älter!
Ralphs Kopf zuckte herum, und der Vampir blickte mich finster an, während er mich schüttelte. »Du hältst das für lustig? Lachst du etwa, Hund?« Das letzte Wort spuckte er förmlich aus.
Mein Kopf flog von einer Seite zur anderen, mein Hals fühlte sich so schlaff an wie eine gekochte Nudel. Ah, ich fühlte mich beinahe … beinahe gut. Ich meine, ich blutete wie ein abgestochenes Schwein und war am Sterben und überhaupt, aber verdammt. Alles in mir fühlte sich gelöster an, leichter, als wäre ich mein ganzes Leben lang am Ersticken gewesen und hätte jetzt endlich Luft zum Atmen.
»Du lachst tatsächlich«, sagte Ralph ungläubig. »Er lacht«, wiederholte er für die anderen Vampire, wobei er seine Stimme nicht weiter hob, weswegen ich nicht ganz sicher war, wie nötig der Kommentar sein mochte, aber wie auch immer. Ich zuckte mit den Schultern, oder zumindest versuchte ich es. In meinen Gedanken zuckte ich definitiv mit den Schultern. Konnte man überhaupt mental mit den Schultern zucken?
»Schön, dass du es für lustig hältst, denn es ist das Letzte, was du je fühlen wirst.« Er presste seine Klauen gegen meinen Bauch, zerschnitt schon mein T-Shirt, kratzte gerade so über meine Haut. »Sag Lebwohl, Hündchen.«
»Ralph!«, schrie der Vampir mit dem langen schwarzen Haar. Ich fragte mich, ob seine Augen von der gleichen Farbe wie sein Haar sein mochten. Meine waren es. Von der Farbe seiner Haare, meine ich. Nicht von der Farbe meiner Haare. Mein Haar war braun, aber meine Augen schwarz. Schwarz wie die Nacht. Schwarz wie Kohlen. Schwarz wie —
»Noch ein Stück weiter, und ich reiße dir selbst den Kopf ab!«, brüllte der Grimmiger-als-sie-alle-Blutsauger Ralph an. »Geh weg von ihm.«
Ralph schüttelte mich ein letztes Mal und ließ mich dann los. Ich sackte an der Mauer zusammen, kaum fähig, mich auf den Füßen zu halten. Ich fragte mich, ob sich Trunkenheit wohl so anfühlte. Ich war noch nie betrunken gewesen. Vielleicht hätte ich es ausprobieren sollen. Na gut. Sehr bald würde das auch keine Rolle mehr spielen. Nichts würde mehr eine Rolle spielen.
»Gut. Du willst ihn töten, Miguel. Er gehört dir«, sagte Ralph und spuckte auf mich. Es landete auf meinem Bein, glaube ich, aber da war so viel Blut, dass man es unmöglich mit Sicherheit sagen konnte. »Ich kann ohnehin nicht mehr von ihrem Gift an mir gebrauchen.«
Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie meine eben noch bäuchlings daliegenden Rudelgefährten sich bewegten. Sie lebten. Da die Aufmerksamkeit aller Blutsauger jenem Kameraden galt, der sich gerade seinem nächsten Opfer näherte (äh, das war ich, nur für den Fall, dass es nicht klar sein sollte), konnten Harold und George sich davonstehlen. Gut.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Bedrohung Schrägstrich Erlösung in meiner Reichweite. Mit langsamen, gleichmäßigen Schritten näherte sich mir Miguel, der gruselige Vampir, der mein halbes Rudel verstümmelt hatte und mich offenbar seiner Liste hinzufügen wollte, der Vampir mit dem hinreißenden schwarzen Haar und der — Moment, hinreißend? Wie viel Blut hatte ich verloren? Jedenfalls genug, dass mein Tod unmittelbar bevorstand. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte.
Schließlich und endlich war das der Grund, warum ich mich dieser Vampir-Beseitigungs-Mission einiger gleichaltriger Rudeljungs überhaupt angeschlossen hatte. Verflucht, es war der Grund, warum sie mir — zum ersten Mal seit Kindertagen — überhaupt gestattet hatten, mich ihnen für irgendetwas anzuschließen.
Ein unbewaffneter Gestaltwandler, der seine Gestalt nicht wechseln konnte, würde die Auseinandersetzung mit einem Zirkel von Blutsaugern nicht überlegen. Das wussten wir alle. Die anderen waren losgezogen, um das Rudel gegen unseren meistgehassten Feind zu verteidigen und sich auf Jahre hinaus traurige Berühmtheit zu sichern. Und ich? Ich war hier, um auf die einzig ehrenhafte Weise zu sterben, die sich mein zwanzigjähriges Hirn ausmalen konnte.
Aber wie gesagt, die Dinge verliefen nicht, wie ich es erwartet hatte. Denn je näher mir dieser Blutsauger Miguel kam, desto deutlicher spürte ich, wie sich Blut noch an einem anderen Ort als um meine Schuhe sammelte. Meine Hosen saßen nicht allzu eng, aber im Gegensatz zu meinem restlichen Körper war mein Schwanz nicht gerade klein, und in seinem erregten Zustand ließ er sich schlecht verbergen. Ich fragte mich, ob Vampire bei Nacht gut sehen konnten. Wahrscheinlich. Sie waren nachtaktiv, wie unsere Wölfe, könnten sie also bei Nacht nicht gut sehen, dann könnten sie auch nicht jagen, nicht trinken. Oh Gott, trinken.
Wie würde es sich anfühlen? Ich starrte Groß, Dunkel und Tödlich an und fragte mich, wie es sich anfühlen würde, wenn diese scharfen Fangzähne sich in meine Adern bohrten und das Blut aus meinem Körper saugten. Meine Knie gaben bei der Vorstellung leicht nach. Der Blick des Vampirs traf meinen. Er leckte sich über die Lippen, und das war’s. Endspiel. Ich kam, zuckend und keuchend, während meine Erlösung meine Unterhose bekleckste.
Die Augen des Vampirs weiteten sich überrascht, und seine anmutigen Schritte kamen ins Stocken. Garantiert konnten Vampire im Dunkeln sehen. Oder vielleicht hatten sie auch einfach einen besonders ausgeprägten Geruchssinn.
Miguel kam noch näher, und endlich konnte ich seinen Geruch über die Millionen anderer in dieser dreckigen Halbblutstraße wahrnehmen. Ich zitterte vor erneuter Begierde.
Nein. Das konnte nicht sein. Unmöglich.
Er machte noch einen Schritt. Und dann noch einen. Sein Blick blieb fest auf mich geheftet.
Meine Augen verdrehten sich, die Anspannung wich vollkommen aus meinem Körper. Der Druck auf meinem Brustkorb verschwand völlig. Und dann stand ich auf allen Vieren, empfand endlich Frieden, bevor alles schwarz wurde.